Caspar Hirschi

Offizielle Experten und öffentliche Kritiker in der Aufklärung

Die Geisteswissenschaften stehen derzeit unter einem doppelten Veränderungsdruck. Um im Wettbewerb um Fördergelder zu bestehen, müssen sie sich den projektförmigen und verbundsartigen Forschungsstrukturen der Naturwissenschaften anpassen. Gleichzeitig werden sie von der neuen Laien-Intelligenz des Internetzeitalters gedrängt, sich gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit neu zu positionieren und zu legitimieren. Vor diese teilweise widerstreitenden Anforderungen gestellt, haben ihre Vertreter bisher vor allem defensiv argumentiert und passiv agiert.

Das vorliegende Projekt beruht auf der Überzeugung, dass der Veränderungsdruck nur produktiv genutzt werden kann, wenn Geisteswissenschaftler ihre sozialen Rollen aus eigenem Antrieb neu definieren und öffentlich repräsentieren. Dazu benötigen sie jedoch ein geschärftes Bewusstsein über den Wandel von Gelehrtenrollen in den vergangenen Jahrhunderten. Zu diesem Bewusstsein will das Projekt einen Beitrag leisten.

Es beschäftigt sich mit der Konstruktion zweier wirkmächtiger Gelehrtenrollen der Moderne, jener des öffentlichen Kritikers und jener des offiziellen Experten. Im Gegensatz zu gängigen Forschungsmeinungen werden die beiden Rollen nicht als antagonistisch, sondern als komplementär und der Experte nicht als Totengräber, sondern als Wegbereiter des Kritikers aufgefasst. Als entscheidende Phase für die Gestaltung dieser Rollen werden die letzten hundert Jahre des Ancien Régime angesehen, wobei Frankreich für jene des Experten und England für jene des Kritikers die Vorreiterfunktion zugeschrieben wird.

Methodisch verfolgt die Studie eine umfassende Historisierung und Kontextualisierung von gelehrten Selbstinszenierungen. Begriffe wie "Experte", "Kritiker", "Gelehrtenrepublik", "Nützlichkeit" und "öffentliche Meinung" werden nicht als analytische Kategorien auf die Geschichte angewendet, sondern zuerst als historische Kategorien untersucht. Das Quellenkorpus reicht von Wörterbüchern und Traktaten über Briefe und Kommissionsberichte bis zu Druckgraphiken und Gemälden. Anhänger und Gegner der jeweiligen Gelehrtenrolle werden gleichermaßen berücksichtigt, da beide an ihrer Konstruktion beteiligt waren und da die Rollenideale in Kontroversen besonders plastisch hervortreten.

Die Befunde werden anschließend kontextualisiert: bezüglich der Formen gelehrter Institutionalisierung, bezüglich der Organisation von Büchermarkt und Zensur und bezüglich der Bedeutung von Publikum und Patronage. Dieses Vorgehen erlaubt es, die politischen Funktionen von Gelehrtenrollen genauer zu bestimmen und die strukturellen Widersprüche zwischen Rollenidealen und gelehrter Praxis herauszuarbeiten.

Um die Bedeutung der unterschiedlichen Kontexte aufzuzeigen, werden Frankreich und England komparatistisch untersucht. Wurde in England die staatliche Vorzensur bereits 1695 abgeschafft und 1710 durch ein Copyright-Verfahren ersetzt, so blieb sie in Frankreich bis zur Revolution bestehen. Beruhte die Einrichtung von Akademien in Frankreich auf staatlicher, so in England auf privater Förderung. Agierten politische Kritiker in England in einem parlamentarischen Parteiensystem, so in Frankreich in einem monarchischen Einheitsstaat. Die vergleichende Untersuchung beider Länder ist umso lohnender, als sie auch Rückschlüsse auf die spätere Entwicklung der angelsächsischen und kontinentaleuropäischen Wissenschaftskultur erlaubt.

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert